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Sabine Borgwart

Für die 4. Ausgabe vom Process*in Magazine habe ich einen Text zum Thema »Macht im Literatur- und Kulturbetrieb« beigesteuert.
Ich gehe die Sache darin ganz grundsätzlich an und frage mich:
Wie funktioniert eigentlich die Welt?
Und was hat das mit meinem Schreiben zu tun?
Im Dezember 2019, drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter, lernte ich den Schriftsteller kennen. Ich arbeitete damals für einen Buchladen und betreute seine Lesung. Ich hatte meiner Mutter noch davon erzählt. Sie wusste, wie sehr ich seine Bücher mochte, und ich dachte, sie hätte sich bestimmt gewünscht, dass ich dorthin ging. Er kam rein und siezte mich, obwohl wir in einem Berliner Keller standen und ich einen geblümten Haarreif trug. Ich mochte ihn sofort, grundlos, wie das manchmal so ist, und ich war wütend wegen seiner Höflichkeit, die uns unnötig fremd machte, wie ich fand, und die ich ihm nicht vorwerfen konnte. Er sagte:
»Ich würde gerne noch jemanden auf die Gästeliste setzen. Kann ich Ihnen das sagen?«
»Sie können mir alles sagen.« Meine Hände begannen, nach der Liste zu kramen. Alles…?! Ich horchte meiner Stimme hinterher. Es war ein Unterton darin gewesen, ein feiner Zynismus, der die allzu naive Zutraulichkeit der Aussage zurücknahm und den im Raum schwebenden Satz zu ergänzen schien: Sie können mir alles sagen - bringt halt nicht viel. Der Schriftsteller machte ein Geräusch beim Ausatmen: »Huh.« Und ich bildete mir ein, eine leichte Belustigung darin zu hören.
»Was mache ich denn jetzt?«, fragte ich meinen Chef, der den Schriftsteller zur Begrüßung mit größter
Selbstverständlichkeit geduzt hatte. »Einfach switchen«, sagte der schulterzuckend, und nach der Veranstaltung fing ich kommentarlos an, diesen circa zwanzig Jahre älteren Mann, dessen Arbeit ich bewunderte, zu duzen. Das erste Mal kostete es Überwindung, aber es lohnte sich. Ich fühlte mich wagemutig und heldinnenhaft – und sehr erleichtert - als er mich, ebenfalls kommentarlos, zurück duzte.
Wir gingen essen. Der Lektor des Schriftstellers war dabei, eine Übersetzerin, mein Chef und ein oder zwei Kolleginnen. Mir wurde klar, dass ich zum ersten Mal seit dem Tod meiner Mutter mit Menschen zusammen war, die weder mit mir trauerten, noch von meiner Trauer wussten. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es mir jemals schwergefallen wäre, in Gesprächen nicht ständig über meine Mutter zu reden, aber an diesem Abend hätte ich viel über sie zu sagen gehabt, und so blieben mir regelmäßig Sätze im Hals stecken. Grammatik - so komplex. Beispiele:
»Das Buch mochte meine Mutter auch.«
→ hätte ich sagen können. Ein ganz und gar unverfänglicher Satz, bei dem niemand an Tod denkt.
»Meine Mutter hat immer viel gelesen.«
→ schwieriger. Liest sie heute nicht mehr viel? Könnte ja sein, dass es ihr zu anstrengend geworden ist, die Augen lassen nach, die Konzentration auch, fernsehen ist einfacher.
»Nein, sie ist tot!«
»Oh.«
Das musste vermieden werden.
»Meine Mutter mag Elena Ferrante.«
→ Lüge! Sie mochte.
»Jetzt nicht mehr? Naja, das kann ich schon verstehen, irgendwann läuft der Stil sich halt auch tot, nicht wahr.«
»Weiß ich nicht, kann ich nicht beurteilen, ich hab’s nicht gelesen. Stimmt vermutlich, aber meine Mutter MOCHTE Elena Ferrante, WEIL SIE TOT IST!«
Als ich später allein im leeren U-Bahnhof stand, bekam ich einen Heulkrampf.
An dieser Stelle möchte ich eine Sache sagen: Ich bin eine Träumerin, aber ich bin nicht dumm. Und auch nicht mehr jung und unerfahren. Den Grund dafür, dass ich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, so lange verschoben habe, kann ich jetzt gerade, in diesem Moment - wie ich hier so sitze und tippe - kaum noch greifen. Ich weiß aber noch, dass der Aufschub mit einem Satz zu tun hatte, der lange ein Lebensgefühl war, weil er mir für mein empfindliches Wesen viel zu oft erwidert wurde, wenn ich über meine Träume, Wünsche und Pläne gesprochen habe. Der Satz lautet: So funktioniert aber die Welt nicht. Und ich glaube, eigentlich heißt er: Du bist naiv.
Wirklich überzeugt hat mich das nie. Wer zu wissen meint wie DIE WELT funktioniert, ist doch auch nicht die hellste Kerze auf der Torte (Ich weiß, dass ich nichts weiß!). Meiner eigenen Einschätzung vertraute ich aber auch nicht. Also habe ich versucht, meine Kreativität zu kommerzialisieren. Gestalterisch arbeiten einerseits, das Publikum bedienen, andererseits. Es fühlte sich falsch an. Inkonsequent. Meine Ergebnisse nichts Halbes und nichts Ganzes. Meistens nur nachlässig beendet, oder gar nicht, weil ich ja schon sah, wie es mir aufweichte. Überflüssig zu erwähnen, dass keines meiner Projekte nennenswerten Erfolg hatte, oder mich erfüllte. Im Gegenteil. Ich hatte verinnerlicht, was Leute meinen, wenn sie sagen, so funktioniert aber die Welt nicht. Und zwar so gut, dass ich gar nicht mehr fragen musste, ich konnte alles selbst beantworten. Zum Beispiel – und damit zurück zum Thema – funktioniert die Welt bedauerlicherweise so, dass eine junge Frau mit einem älteren Mann nicht befreundet sein kann. Nämlich, weil der Mann immer nur an Sex denkt, wenn er mit ihr Kontakt hat, das ist quasi genetisch bedingt; und sie ist auch nicht besser, denn sie will nur sein Geld. Falls er keins hat, ist es der Vaterkomplex, der sie in seine schlaffen Arme treibt. Sie bestreitet das möglicherweise, aber viel Psychologisches ist uns gar nicht bewusst, und ist dann trotzdem so.
Der Schriftsteller hatte eine Website mit einer E-Mail Adresse. Ich wollte ihm nicht schreiben. Bei Alldem, was ich über die Welt wusste, kam es mir riskant vor. Ich wusste auch, er war viel unterwegs, viele Lesungen. Es war davon auszugehen, dass auch er davon gehört hatte, wie die Welt funktioniert (oder eben nicht). Ich kannte seine Meinung dazu nicht, hielt ihn aber, aufgrund seiner Geschichten, ebenfalls für einen Träumer. War es möglich, dass wir gemeinsam etabliertes Weltwissen ignorierten? Vielleicht wollte er das gar nicht. Ich wusste, was ich wollte: Ihn weiter mögen, Enttäuschung vermeiden. Ich hatte schon so viel verloren.
Irgendwann, als der Schmerz wieder besonders groß war, kurz nach Weihnachten, schrieb ich ihm doch. Weil ich es nicht gut finde, andere Menschen ungefragt mit so großen Emotionen zu konfrontieren, bemühte ich mich, meinem Thema ein sachliches Fundament zu geben und erläuterte dem Schriftsteller die grammatikalischen Probleme, mit denen ich nicht gerechnet hatte, die der Tod aber anscheinend mit sich brachte, und wie sie mich kurzfristig stumm gemacht hatten. Er antwortete ein paar Wochen später. Er schrieb sehr nett, im besten Sinne des Wortes. Er teilte sogar etwas Persönliches aus seinem Leben mit mir, etwas, das nicht im Internet stand. So nett die Mail war, sie hatte einen Unterton: Häng dich nicht an mich. Ich werde dich nicht retten.
Ich fühlte mich zurückgewiesen, obwohl ich genau wusste, dass es so nicht gemeint war. Und dass ich großes Glück hatte, weil ich ihn doch so unbedingt weiter mögen wollte, und mit dieser Antwort nichts, wirklich gar nichts, dagegen sprach. Da war ein Erwachsener (wenn deine Mutter stirbt, bist du Kind), der Verantwortung übernahm und es nicht ausnutzte, dass ich gerade emotional angreifbar war - was das Normalste der Welt sein sollte, aber so funktioniert sie ja nicht! Ich ertappte mich bei dem schrecklichen Wunsch, dass er es doch versucht hätte. Dass er mich getröstet, mir geschmeichelt, vielleicht sogar ein bisschen mit mir geflirtet hätte. Dann hätte ich ihm nicht mehr geantwortet. Vielleicht hätte ich sogar wieder ganz aufgehört zu schreiben. Romane! Und dann noch davon leben wollen.
Aber so funktioniert doch die Welt nicht, rufen alle im Chor.
Und ich hätte gedacht: ich weiß.
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